Konzepte für Versorgung, Aufklärung und Forschung

Aktueller Stand zur Umsetzung des Nationalen Aktionsplans für ME/CFS und das Post-COVID-Syndrom: Weiterhin dringender Handlungsbedarf der Bundesregierung 

Berlin/Hamburg, 27.09.2022 – Seit Veröffentlichung des Nationalen Aktionsplans für ME/CFS und das Post-COVID-Syndrom am 18. Februar 2022 haben die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS, Long COVID Deutschland, Prof. Dr. Carmen Scheibenbogen (Charité Fatigue Centrum) und Prof. Dr. Uta Behrends (MRI Chronische Fatigue Centrum) Gespräche mit Bundestagsabgeordneten aus den Ausschüssen für Gesundheit, für Bildung, Forschung und Technikfolgenabschätzung,  dem Haushalts-  und Finanzausschuss sowie mit Mitarbeitenden des Bundesministeriums für Gesundheit (BMG) und des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) geführt und für die Umsetzung des Aktionsplans geworben.  

Ein erster Erfolg dieser umfassenden Gespräche ist der Beschluss des Deutschen Bundestages vom 12. Mai 2022 zur geplanten Förderung der Nationalen Klinischen Studiengruppe (NKSG) Post-COVID-Syndrom und ME/CFS in Höhe von 10 Millionen Euro für Therapiestudien. Zum jetzigen Zeitpunkt (Stand September 2022) ist noch offen, ob seitens des Bundesministeriums für Bildung und Forschung die zugesagte Finanzierung zielführend, d. h. über einen Zeitraum von mindestens 24 konsekutiven Monaten, für eine Reihe an geplanten Therapiestudien zur Verfügung stellen wird. Zudem benötigt es dringend einer langfristigen Anschlussfinanzierung der NKSG für den Zeitraum ab 2024.

Es besteht darüber hinaus weiterhin dringender Handlungsbedarf, um das menschliche Leid sowie den zu erwartenden volkswirtschaftlichen Schaden durch die fortlaufende Zunahme von Myalgischer Enzephalomyelitis / Chronischem Fatigue-Syndrom (ME/CFS) und dem Post-COVID-Syndrom in der Bevölkerung abzuwenden. Unsere beiden Organisationen erreichen täglich erschreckende Berichte von Betroffenen, darunter auch Eltern erkrankter Kinder und Jugendlicher. Sowohl der aktuelle Stand der Aufklärung als auch die medizinische Versorgungssituation sind für die allermeisten der Betroffenen unverändert prekär. Die erst seit diesem Jahr Erkrankten erleben vielerorts die gleichen Hürden, Vorurteile, Stigmatisierungen, Ablehnungen und – im besten Falle – Eingeständnisse von Hilflosigkeit seitens medizinischer Versorgungsinstanzen, wie die in den ersten beiden Jahren der Pandemie an Post-COVID Erkrankten sowie die bereits vor 2020 rund 250.000 ME/CFS-Erkrankten. 

Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) geht davon aus, dass in den 53 Staaten der WHO Region Europa von 2020 bis 2021 bereits mindestens 17 Millionen Menschen an Long COVID litten. Laut Zahlen der nationalen Statistikbehörde leiden im Vereinigten Königreich aktuell 1,1 Millionen Menschen nach eigenen Angaben seit mindestens 12 Monaten, und mehr als 500.000 bereits seit 24 Monaten, an Long-COVID-Symptomen. Belastbare Daten zu Long COVID in Deutschland liegen bis heute nicht vor. Wie häufig ME/CFS nach einer SARS-CoV-2-Infektion insgesamt auftritt, ist noch unklar. Hierzu fehlen bisher bevölkerungsrepräsentative Studien. Bisher wurde von ME/CFS bei etwa 10 bis 20 Prozent aller Post-COVID-Fälle ausgegangen. Sechs unterschiedliche Studien mit variierenden Studienpopulationen weisen hingegen auf einen potenziell höheren und entlang der Studien ähnlich hohen ME/CFS-Anteil bei Post-COVID-Erkrankten hin: Nach sechs Monaten wurden je nach Studie bei 37 bis 49 Prozent der Untersuchten ME/CFS diagnostiziert. Aufschlüsse zu den Überschneidungen und Unterschieden von ME/CFS und den Subgruppen des Post-COVID-Syndroms liefert eine aktuelle Studie der Charité.

Fest steht bereits, dass die Zahl der ME/CFS Erkrankten in Deutschland durch COVID-19 stark zunimmt. Bisher wird von einer Verdopplung der ME/CFS-Erkrankungen im Zuge der Pandemie ausgegangen. Dies würde einer Gesamtzahl von dann rund 500.000 ME/CFS-Erkrankten entsprechen und den geschätzten volkswirtschaftlichen Schaden dieser Erkrankung in Deutschland auf ca. 15 Milliarden Euro pro Jahr verdoppeln. Eine vorläufige großangelegte Studie legt zudem nahe, dass jede weitere durchgemachte SARS-CoV-2-Infektion mit einem sukzessiv erhöhten kumulativen Risiko für die Herausbildung anhaltender Beschwerden und Folgeerkrankungen einhergeht. 

Der Handlungsbedarf ist so groß wie nie. Die bisher von der Bundesregierung zugesicherten Maßnahmen zur Bewältigung von ME/CFS und dem Post-COVID-Syndrom sind angesichts der unzureichenden Versorgungssituation, mangelnder flächendeckender Aufklärung und derzeit fehlender kausaler Therapiemöglichkeiten bei weitem nicht ausreichend.  

Für eine bedarfsgerechte und schnelle Umsetzung von gezielten Maßnahmen haben daher die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS und Long COVID Deutschland mit der Unterstützung von Prof. Scheibenbogen und Prof. Behrends die zentralen Forderungen des Nationalen Aktionsplans weiter ausformuliert und – entsprechend der Empfehlungen des Expert*innenrates der Bundesregierung zu COVID-19 – für die wichtigsten Handlungsfelder einzelne ausführliche Konzepte entwickelt, die Abgeordneten der Regierungskoalition sowie den zuständigen Bundesministerien für Gesundheit, für Bildung und Forschung und für Arbeit und Soziales vorgelegt wurden. 


Versorgung: Konzept für ein Netzwerk von Kompetenzzentren zur Versorgung und Erforschung von ME/CFS und dem Post-COVID-Syndrom 

Die Bundesregierung hat es sich auf Initiative von Long COVID Deutschland und der Deutschen Gesellschaft für ME/CFS im Koalitionsvertrag zur Aufgabe gemacht ein deutschlandweites Netzwerk von Kompetenzzentren und interdisziplinären Ambulanzen für ME/CFS und die Langzeitfolgen von COVID19 aufzubauen. Hier ist es von hoher Relevanz, mittels enger Kooperation der ausgewiesenen ME/CFS- und Post-COVID-Ambulanzen (neben der Vernetzung und dem Ausbau dieser zu Kompetenzzentren) insbesondere auf das in Deutschland vorhandene klinische Wissen von ME/CFS im Bereich der Diagnostik und Forschung zurückzugreifen. Ferner sollten im Rahmen einer partizipativen Forschung und Versorgung Patient*innenorganisationen vertretend für beide Krankheitsbilder (ME/CFS und Post-COVID-Syndrom) mit ihrer Expertise bei diesem Vorhaben bei allen relevanten Arbeitsschritten beteiligt sein.  

Damit die Kompetenzzentren unter Berücksichtigung der Bedürfnisse der Erkrankten aufgebaut werden können, haben die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS und Long COVID Deutschland für die Schaffung eines Netzwerkes von Kompetenzzentren und interdisziplinären Ambulanzen ein entsprechendes Konzept entwickelt und dem BMG sowie einzelnen Bundestagsabgeordneten übergeben. 

Nach eigenen Aussagen wird sich das BMG in der zweiten Jahreshälfte 2022 mit der Umsetzung der im Koalitionsvertrag festgehaltenen Maßnahmen befassen. Laut Bundesgesundheitsminister Prof. Dr. Karl Lauterbach befinde sich ein Gesetz zur Schaffung von Kompetenzzentren für ME/CFS und das Post-COVID-Syndrom in Vorbereitung. Bisher wurden unsere Organisationen nicht in diesen Prozess eingebunden.

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Aufklärung: Konzept für eine flächendeckende Aufklärungskampagne über ME/CFS und das Post-COVID-Syndrom 

In Deutschland fehlt es im Gesundheits-, Sozial- und Gutachtenwesen flächendeckend an evidenzbasiertem Wissen über den fachgerechten Umgang mit den Post-COVID-Erkrankten sowie postinfektiösen Krankheitsbildern wie ME/CFS und Formen der Dysautonomie im Speziellen, wie z. B. dem posturalen orthostatischen Tachykardiesyndrom (POTS). In der Folge kommt es bei den Erkrankten häufig zu Fehldiagnosen. Daraus resultiert oftmals die Zuführung ungenügender und schlimmstenfalls kontraindizierter Therapie- oder Rehabilitationsmaßnahmen. Dies führt wiederum häufig zu ungenügendem Krankheitsmanagement, Verschlechterung des Krankheitszustandes, vermeidbarer Chronifizierung, Stigmatisierung, sozialer Isolation und damit verbundenen Sekundärschäden wie Angst, Depression und schlimmstenfalls Suizidalität. Elementares Wissen über das Kernsymptom bei ME/CFS „post-exertionelle Malaise“ (PEM) und den Umgang hiermit, das sog. Pacing ist selten vorhanden oder wird nicht beachtet und sollte daher im Zentrum der Aufklärungskampagne stehen. Eine ungenügende oder falsche medizinische Behandlung sowie ungenügende psychosoziale Unterstützung der betroffenen Familien haben besonders für erkrankte Kinder und Jugendliche gravierende Auswirkungen auf die Langzeitprognose und die Lebensqualität von Betroffenen und Angehörigen.

Darüber hinaus bestehen aufgrund von mangelndem oder falschem Wissen erhebliche Barrieren hinsichtlich der Anerkennung von Sozial- und Pflegeleistungen. Dies betrifft insbesondere die Anerkennung von Anträgen auf Erwerbsminderungsrenten, einen Grad der Schwerbehinderung und Pflegegrad. In der Folge stellen das Post-COVID-Syndrom allgemein und ME/CFS im Speziellen aufgrund fehlender oder falscher medizinischer Behandlung nicht nur ein langfristiges gesundheitliches Risiko dar, sondern entwickeln sich vor allem auch für jüngere und zuvor erwerbstätige Menschen zu einem wachsenden Armutsrisiko.

Vor diesem Hintergrund ist es ungemein wichtig schnell umsetzbare und wirksame Maßnahmen zur besseren Aufklärung sowohl in der allgemeinen Bevölkerung als auch in all den für die Versorgung relevanten Bereichen umzusetzen. Unsere beiden Organisationen haben daher ein entsprechendes Konzept für eine flächendeckende Informationskampagne entwickelt und dem BMG sowie dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales sowie einzelnen Bundestagsabgeordneten übergeben. Unsere beiden Organisationen sind zum Bedarf einer besseren Aufklärung zudem mit den betreffenden Bundesbehörden in Gesprächen. Die Reaktionen auf unsere Forderung, eine große Aufklärungskampagne zu initiieren, sind bisher verhalten. 

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Grundlagenforschung: Konzept für eine Förderrichtlinie zur gezielten biomedizinischen Erforschung von ME/CFS und dem Post-COVID-Syndrom 

Der aktuelle Umfang an biomedizinischer Grundlagen- und Diagnostikforschung von ME/CFS und dem Post-COVID-Syndrom reicht nicht aus, um die Krankheitsbilder zeitnah zu verstehen und ursächlich behandeln zu können. Auch die bisherige Förderung der NKSG PCS/CFS bildet nur einen Bruchteil der notwendigen Forschungsförderung ab. Insbesondere im Vergleich zu vergleichbaren Krankheitsbildern (z. B. Multiple Sklerose) wird deutlich, dass im Bereich der öffentlichen Förderung ein starkes Gefälle zulasten von ME/CFS-Forschung fortbesteht.   

Im Zuge der Corona-Pandemie ergibt sich ein bisher einzigartiges Zeitfenster zur gezielten Erforschung der pathogenen Mechanismen von ME/CFS und anderen postinfektiösen Syndromen. COVID-19 bietet die Möglichkeit, relativ einheitliche Kohorten von Erkrankten mit postinfektiösem Syndrom zu untersuchen, deren Krankheit durch dieselbe Virusart ausgelöst wurde, die noch nicht jahrelang krank sind, in Teilen die Diagnosekriterien für ME/CFS erfüllen, und mit Kohorten von ME/CFS-Erkrankten nach anderen viralen Infekten und Triggern verglichen werden sollten, wie ME/CFS-Erkrankte durch Epstein-Barr- oder Influenza-Viren, die z. T. schon länger erkrankt sind.  

Zur parallelen Erforschung von postinfektiösen Krankheitsbildern im Rahmen einer neu einzurichtenden Förderrichtlinie sind, basierend auf bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnissen, spezifische Forschungsansätze von besonderer Relevanz, die es gezielt zu fördern gilt. Dazu zählen u. a. Autoimmunität, Entzündungsprozesse, Gefäßstörungen, Störungen des autonomen Nervensystems, das Fortbestehen von Virusbestandteilen und die Reaktivierung von latenten Viren. Unsere beiden Organisationen haben daher ein entsprechendes Konzept für eine durch die Bundesregierung einzurichtende Förderrichtlinie zur gezielten biomedizinischen Forschung erstellt und dem BMBF sowie einzelnen Bundestagsabgeordneten übergeben. Das BMBF hat bisher keine Bereitschaft signalisiert, eine weitere Ausschreibung für die biomedizinische Grundlagenforschung von ME/CFS und dem Post-COVID-Syndrom einzurichten. 

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Derzeit laufen im Deutschen Bundestag die Verhandlungen zum Bundeshaushalt 2023. Anfang November 2022 wird final über die Zuteilung von Finanzmitteln und somit auch über mögliche weitere Förderungen in den Bereichen Gesundheit und Forschung entschieden. Die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS und Long COVID Deutschland haben sich in den letzten Wochen im persönlichen Austausch und Gesprächen mit Bundestagsabgeordneten aus den Fraktionen der SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP sowie aus den Fraktionen von der CDU/CSU und DIE LINKE aktiv für die finanzielle Förderung der in den einzelnen Konzepten aufgeführten Maßnahmen eingesetzt. Ob zur Bewältigung von ME/CFS und dem Post-COVID-Syndrom weitere Gelder durch die Bundesregierung bereitgestellt werden ist zum jetzigen Zeitpunkt noch unklar.

Das Post-COVID-Syndrom und ME/CFS haben das Potenzial das Gesundheits-, Sozial- und Wirtschaftssystem in Deutschland generationenübergreifend und über den Zeitraum der akuten Pandemie hinaus erheblich zu belasten. Wir fordern die Politik daher auf, in allen Feldern schnell und effektiv tätig zu werden.