18. Juni 2024 (Peer Review)
Statistisch genesen aber chronisch krank
Mindestens 10% aller COVID-19-Erkrankten leiden an diversen anhaltenden oder neu auftretenden gesundheitlichen Beschwerden nach einer SARS-CoV-2-Infektion, die länger als drei Monate anhalten. Auch nach asymptomatischen, milden und moderaten Infektionen wird bei statistisch als genesen bezeichneten Personen die Diagnose Long COVID bzw. Post-COVID-Syndrom gestellt. Laut der klinischen Falldefinition der Weltgesundheitsorganisation (WHO) handelt es sich dabei um ein Vielzahl an Symptomen, die unterschiedliche Organe betreffen können.
Eine Post-COVID-19-Erkrankung kann bei Personen mit einer wahrscheinlichen oder bestätigten SARS-CoV-2-Infektion auftreten, in der Regel drei Monate nach Auftreten von COVID-19 mit Symptomen, die mindestens zwei Monate andauern und nicht durch eine andere Diagnose zu erklären sind. Zu den allgemeinen Symptomen zählen Erschöpfung, Kurzatmigkeit, kognitive Fehlleistungen sowie weitere, die sich im Allgemeinen auf den Tagesablauf auswirken. Die Symptome können neu auftreten nach einer anfänglichen Genesung von einer akuten COVID-19-Erkrankung oder die anfängliche Krankheit überdauern. Die Symptome können fluktuieren oder mit der Zeit wiederkehren.
Weltgesundheitsorganisation (WHO), Klinische Falldefinition einer Post-COVID-19-Erkrankung gemäß Delphi-Konsens
Neben den drei Hauptsymptomen – postvirale Fatigue (unter anderem krankhafte Erschöpfung), Atemnot und neurokognitive Störungen (Konzentrations-, Wortfindungs-, und Gedächtnisstörungen) – handelt es sich der WHO-Definition nach bei Long COVID vor allem auch um einen Krankheitszustand, der von ausgeprägter physischer und kognitiver Belastungsintoleranz (sogenannte Post-Exertionelle Malaise) gekennzeichnet ist. Menschen die unter Long COVID leiden sind oft nicht mehr in der Lage in gewohntem Umfang ihren Berufs- und Alltagstätigkeiten nachzugehen, ohne das sich ihr Gesundheitszustand dadurch langfristig verschlechtert. Laut einer ersten Studie sind 45% der Long COVID-Erkrankten nach über 6 Monaten nicht in der Lage Vollzeit zu arbeiten, 20% sind arbeitsunfähig. 80% der Betroffenen, die nach 6 Monaten noch Beschwerden haben, leiden auch nach mehr als einem Jahr an Symptomen. Auch Kinder und Jugendliche sind von Long COVID betroffen.
Eine erste Studie hat mehr als 200 mögliche Long COVID-Symptome erfasst. Bisher sind die Ursachen für diese Beschwerden nicht ausreichend erforscht. Daher gibt es aktuell keine anerkannten und wirksamen Therapiemöglichkeiten, welche die zugrunde liegenden Erkrankungen heilen. Long COVID-Betroffene sind somit chronisch erkrankt ohne das sie derzeit gezielt behandelt werden können. Rehabilitationsmaßnahmen können lediglich dem Krankheitsmanagement, nicht aber der Heilung der ursächlichen Krankheitsmechanismen dienen.
Erste Studien weisen auf ein teilweise reduziertes Risiko für Long COVID nach einer vollständigen SARS-CoV-2-Schutzimpfung hin. Dennoch können auch nach Durchbruchinfektionen Long COVID-Beschwerden auftreten.
Aktuelle Studien und Erkenntnisse aus der klinischen Forschung weisen auf eine Reihe möglicher, oft wechselwirksam agierender, Ursachen für die Long COVID-Beschwerden hin:
- Entzündungen/hyperentzündlicher Zustand
- Immundysregulation/Autoimmunität
- Gerinnungsstörungen/Gefäßerkrankungen
- Viruspersistenz/langanhaltende Virusinfektion
- Autonome Dysfunktion/Störungen des Nervensystems
- Hormonelle Veränderungen/Störungen des Stoffwechsels
Neben Long COVID als eigenständiges Krankheitsbild, können auch nach milden oder moderaten SARS-CoV-2-Infektionen diverse Erkrankungen der Organe (zum Beispiel Herz oder Lunge) oder der Psyche auftreten.
Aktuell wird davon ausgegangen, dass etwa 1-2% aller SARS-CoV-2-Infizierten eine schwere Form von Long COVID entwickeln, bei der nach mindestens 6 Monaten die Diagnosekriterien für Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue-Syndrom (ME/CFS) erfüllt werden. Bis Ende 2021 waren in Deutschland bereits rund 500.000, vor allem junge Menschen von dieser schweren Erkrankung betroffen. ME/CFS geht oft mit einer ausgeprägten körperlichen Behinderung einher. Bisher gibt es für diese Erkrankung keine Therapiemöglichkeiten.